Tilman Thiemig

Tilman Thiemig Autor & Texter. Dramaturg & Literaturinszenator
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Zum Osterfest eine frühlingslaue Lenzgeschichte, die sogar ein wenig mit dem Phänomen der Auferstehung zu tun hat. Sowie...
30/03/2024

Zum Osterfest eine frühlingslaue Lenzgeschichte, die sogar ein wenig mit dem Phänomen der Auferstehung zu tun hat. Sowie die besten Eierwünsche!

Lauer Lenz
Lauer Lenz hieß eigentlich Ludger. Doch so hatte ihn schon lange keiner mehr genannt. Seit dem Tod von Oma Ilse. Bald danach hatten ihn selbst seine Eltern nur noch mit Lauer angesprochen. Die Kinder in seiner Klasse sowieso. Jene in der Nachbarschaft ebenfalls. Später dann, in der Lehre, hatte er sich selbst daran gewöhnt, vom Meister, den Kollegen nur noch mit dem ungeliebten Spottnamen gerufen zu werden. Gerufen, gehänselt, herumkommandiert, gescholten, beschimpft, verfolgt.
Das alles war seine Schuld. Die Schuld von Herrn Kleinschmidt. Hans-Joachim Kleinschmidt. Mit „dt“. Worauf jener immer sehr viel Wert gelegt, sein Klassenlehrer in der Dritten. Der kleine Ludger, damals ja noch, war erst kurz nach Beginn des zweiten Halbjahrs in die 3b gekommen. Grundschule Am Schwarzen Berg. Braunschweig. Zugezogen. Aus Lauingen. Sein Vater hatte aufgegeben. Den kleinen Bauernhof. Die Landwirtschaft. Die Heimat. Hatte lieber im Werk angefangen. Dem kleinen. Aber immerhin. Eine neue Hoffnung im Galggraben.
Kleinschmidt hatte ihn damals an jenem fiesen Februartag scheinbar freundlich begrüßt. Ihn dann gemustert. Gründlich. Mit geübtem Blick erkannt, wenn er da vor sich hatte. Besser gesagt, was: Ein stotterndes Würstchen. Einen schwabbeligen Deppen. Den idealen Sündenbock Schülermaterial also, das von Nutzen sein konnte, um die Truppe bei Laune zu halten. Und entsprechend rasch reagiert. „So, so, Ludger Lenz heißt unser Neuer. Und ist aus Lauingen. Sehr schön. Kinder, heißt den Lauen Lenz willkommen. Lauer, setzt dich mal da hinten hin, zum Wolfgang. Unser Wolle ist auch nicht die hellste Kerze im Kranz. Doch du wirst ihn übertreffen. Da bin ich mir sicher. Du bist dümmer als eine Laubsägearbeit.“
Prompt hatte das Gelächter eingesetzt. Das fortan sein Begleiter durch die Schulzeit sein sollte. Selbst Wolle hatte eingestimmt. Heilfroh, dass er nun die rote Laterne als Trottel der Klasse hatte abgeben können. Und Ludger? Hatte sich eingefunden. In sein Schicksal. Wusste er doch selbst, dass Kleinschmidt so unrecht nicht hatte. Er war weder ein guter Schüler, noch ein toller Sportler, geschweige dann Fußballer. Er konnte nicht gut reden, hatte keine Fantasie, keine Neugier, keine Freude. An irgendetwas. Er wollte eigentlich am liebsten nichts tun, nichts müssen, nichts wollen, nichts sein, nichts spüren. Gar nichts. Lauer? Das passte schon. Nicht heiß, nicht kalt, nicht gut, nicht böse, nicht wild, nicht sanft.
Entsprechend seiner Ergebenheit waren die Jahre, Jahrzehnte dahingeplätschert. Ohne Stromschnellen. Versickert. Was ihm letztendlich gleichgültig gewesen war. Hauptschulabschluss mit Ach und Krach, abgebrochene Lehre, dann ein steter Wechsel von lausigen Hilfsjobs und Stütze. Alles andere, was für die meisten Menschen zum Leben dazuzugehören schien, war ihm gleichgültig. Erfolg? Geld? Haus? Auto? Urlaub? Egal. Das mit den Mädchen sowieso. Gut, eine Handvoll Körbe hatte er als junger Mann gesammelt. Tatsächlich mit einem klitzekleinen Herzklopfgefühl. Hin und wieder. Von denen schwirrten sogar noch die Namen im Hinterkopf herum: Helga, Kirsten, Sigrid, Karola, Linda. Aber dann war Schluss mit dem Blödsinn gewesen. Fünfmal Nein. Das reichte. Er war nicht einmal traurig darüber. Ebenso wenig hatten ihn die Beerdigungen berührt. Außer jener von Oma Ilse. Als er noch klein gewesen. Dann Vater. Uroma Herta. Mutter. Onkel Bernd. Tante Heike. Irgendein Micha. Der sein Cousin. Im letzten Frühling war es endlich vorbei dem Friedhofskrams. Onkel Kurt starb. Sein letzter Verwandter.
Aber genau dessen Tod sollte alles anders werden lassen. Onkel Kurt hatte Lauer seinen Schrebergarten vererbt. Im KGV Morgenland. Am Brodweg. Eine Gegend der Stadt, die er kaum kannte. Besucht hat er Kurt dort nie. Lenz konnte ihn nicht ausstehen., da er immer an ihm rumgemosert hatte. „Lauer, mach was aus dir! Lauer, such dir endlich eine anständige Arbeit! Lauer, lass dich nicht so gehen! Lauer, willst du nicht mal mit der Petra…?“
Doch der Garten gefiel ihm. Letzter Gang. Letztes Grundstück. Nur ein Nachbar. Den er bislang nie gesehen hatte. „Ein uralter Knabe, sehr krank. Der kommt nicht mehr wieder“, wie ihm der Vorsitzende vom Verein versichert hatte.
Das war Lauer nur recht gewesen. Denn seitdem war etwas Merkwürdiges mit ihm passiert: Er hatte Feuer gefangen. Das erste Mal in seinem Leben. War vom Garten, dem Sein inmitten der Blumen, Büsche und Bäume regelrecht begeistert, hatte sich voller Inbrunst an die Arbeit gemacht, geerntet, umgegraben, gepflanzt, gehackt, gesät, Zwiebeln gesetzt und verbrachte selbst im Winter nahezu jede Stunde nach Feierabend in seinem Paradies, da die Laube durchaus komfortabel eingerichtet war. Eine Pritsche gab es, eine kleine Küche, einen Bollerofen und sogar eine Werkstatt. Bestens ausgestattet. Vor allem mit jeder Menge Sägen. Eine Laubsäge suchte Lauer allerdings vergeblich.
Umso mehr freute er sich durch die Monate. Lauer hatte endlich eine Ahnung, wie Glück buchstabiert wurde. Inzwischen war es wieder einmal Februar geworden und manches deutete auf einen frühen Frühling hin. Die Kraniche zogen durch die Lüfte und aus dem Erdreich krümelte es in allen Ecken und Winkeln. Schneeglöckchen, Winterlinge, Krokusse. Sogar die ersten Leberblümchen hatte er schon entdecken können. Lenz war sich sicher, das schönste Frühjahr seines Lebens stand vor der Tür.
Derart von noch immer neuen Gefühlen beschwingt, saß Lauer an einem heiteren Nachmittag auf der Bank vor seiner Hütte, als ein tösender Lärm hereinbrach. Ohrenbetäubend. Nahezu zeitgleich wirbelte ein Blättersturm über sein Grundstück. Wie ein Vulkanausbruch erstickte er Lauers Blütenpracht unter einer dicken Schicht grauen Laubes, alter Zeitungen und sonstigen Unrats. Darunter auch ein Briefumschlag. Der ihm direkt vor die Füße gewirbelt wurde. Lenz hob ihn auf. Las. Erschauderte. Ein Schreiben von der Krankenkasse. An „Herrn Hans-Joachim Kleinschmidt, Hänselmannstraße 3 …“ Kleinschmidt mit „dt“. Lauer schluckte. Schaute nun zu dem Männlein hin, das wie ein Derwisch mit einem enormen Laubbläser über das verwilderte Gelände stolperte. Nein, erkannt hätte er das spierlige Kerlchen auf den ersten Blick sicherlich nicht. Doch als er näherkam, spürte er, wurde ihm klar, dass sein Gartennachbar genesen sei. Zurückgekommen. Und sich als sein alter Klassenlehrer entpuppt hatte.
„Herr Kleinschmidt, was für eine Überraschung. Kennen Sie mich noch? Ich bin’s, der Lauer. Lauer Lenz.“ Das mühselige Kramen in Erinnerungen ersparte er dem jetzt aufhorchenden Greis. Flugs sprang er über den Zaun. Griff den schweren Hammer fester, der zufällig auf der Bank gelegen hatte. Schlug zu. Dreimal. Kräftig. Das genügte.
Er freute sich schon auf die Arbeit mit der Kreissäge. Anschließend würde er Kleinschmidts Reste mit seinem Roller und dem Anhänger in der Gegend verteilen. Vielleicht in verschiedenen Osterfeuern? Womöglich jenem von Lauingen? Lauer lächelte. Genoss das laue Frühlingslüftchen. Wischte sich über die verschwitzte Stirn. Er würde sich zukünftig wieder Ludger nennen.

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