
22/12/2019
Winterspiegelbild
„Ich möchte endlich mal eine Nordmanntanne. Und auch eine richtige Weihnachtsgans. Nicht immer nur Fichte und Fasan. Selbst geschlagen, selbst erlegt“, sagt Vater und schließt die Küchentür. Vorsichtshalber. Ich höre ihn trotzdem. Obwohl er nun ganz, ganz leise wird. „Dann noch die Eisenbahn für den Jungen. Das Kinderlexikon. Die Theaterkarten für Trudel. Nein, das alte Teil wird jetzt endlich verkauft. Ist sowieso viel zu groß. Und überhaupt. Damit muss mal Schluss sein. Mit Wenigensömmern!“
Mutti köchelt weiter. Kocht. Das weiß ich. Auch wenn ich sie nicht sehe. Nichts von ihr höre. Sie guckt dann immer so. Wenn ihr etwas nicht gefällt. Das sagt viel mehr. Als irgendwelche Wörter. Das sind so stumme Blicke in Großbuchstaben. Mit ganz vielen Ausrufungszeichen. Und ich weiß außerdem, dass sie an dem Spiegel hängt. So wie er an der Wand. In unserem Flur. Seitdem ich denken kann.
Dabei kommt er eigentlich von Vaters Onkel. Aus dessen Rittergut. Wenigensömmern. So ein kalter Name! Aber das Dorf liegt ja auch im Osten. In einem Land, das Drüben heißt. Onkel Erich hat ihn damals in seinem Pferdewagen mitgenommen. Damals. Vor über 20 Jahren. Das ist eine ziemlich lange Zeit, wenn man erst sieben ist.
Dann ist er gestorben. Hat Vater den Spiegel vererbt. Dazu einen Säbel. Ein Gewehr. Ein Fotoalbum. Und einen Traum. Einen kaputten Traum. Denn eigentlich hatte er auch das Gut erben sollen. Aber dann „ist der Iwan gekommen“, wie Große Omi immer sagt. Sich dabei eine Träne unterm Auge verreibt.
Der Iwan! Ich muss immer an Iwan den Schrecklichen denken. Den bösen Zaren aus dem Film von Professor Flimmerich. Seine Frau ist die Hexe Babajaga. Oder besser noch die Schneekönigin. Die ist sehr schön, aber kalt. Und statt Kindern haben sie Wölfe. Die laut singen. Ganz falsch. Die passen eigentlich alle richtig gut nach Wenigensömmern.
Mutti findet das auch. Sie guckt dann immer so, wenn Große Omi wieder davon anfängt. Von der alten Geschichte. Rittergut. Wenigensömmern. Und der Iwan. Den Spiegel mag sie aber trotzdem sehr gern. Sie streichelt ihn sogar manchmal. Gibt ihm ein kleines Küsschen.
Und im Dezember schneidet sie Zweige vom Kirschbaum. Dem großen mit den wilden Augen im Stamm. Stellt sie in eine hohe Vase. Vor den Spiegel. Wo sie sacht erwachen. Aus dem Winterfrost. Blühen lernen. Blüten lächeln lassen.
Dann wird es immer richtig lebendig hinter dem Glas. Ich stehe jedes Jahr wieder ganz oft davor und schaue zu. Ihnen. Höre sie. Die vielen Bienen. Die dicken Hummeln. Ein, zwei, drei Schmetterlinge gesellen sich dazu.
Sie kommen alle aus dem Garten. Dem verzauberten. Der irgendwo zwischen der Tapete und der Rückwand sein muss. Wo genau, weiß ich nicht. Obwohl ich die Stelle untersucht habe. Sehr gründlich. Doch das ist nicht so wichtig. Wichtig ist, dass sie da sind. Brummeln und summen und tanzen.
Wie aufgeregt sie sind! Weil sie ja zu den Kirschblüten wollen. Es aber nicht schaffen. Drei oder sieben Mal gegen die Scheibe bloppeln. Bevor sie weiterziehen. Ein bisschen taumelig noch. Wieder zu den Obstbäumen und Blumen im Garten. Dort ihr Glück suchen. Manchmal kann ich dort einen kleinen Jungen sehen. Der durch das Gras springt. Sich hinterm Johannisbeerstrauch versteckt. Mir ähnlich sieht. Aber andere Anziehsachen trägt.
Und der jetzt den Spiegel verkaufen will. Dabei brauche ich keine Eisenbahn. Überhaupt nicht. Gut, auf das Lexikon freue ich mich schon. Die vielen neuen Wörter. Besonders die schwierigen. Ein, zwei, drei Marzipankartoffeln wären auch fein.
Aber dafür auf die Bienen verzichten? Die Brummelhummeln? Die ein, zwei, drei Schmetterlinge? Die dann wegfliegen werden. Fernweit. Genauso weit wie der Weihnachtsmann. Das Christkind. Fernweitweg. In ein Land, das hinter der Tapete wohnt. Hinter der Wand. Der Mauer. Der Zeit.
In der Nacht stehe ich auf. Gehe in den Flur. Sehe das weiße Feld. Sehe das Vermissen. Das Fehlen. Vater hat sein Wollen wahrgemacht. Ich gehe zurück. In mein Zimmer. Hole meinen Tuschkasten. Pinsel. Buntstifte. Wachsmalkreiden. Mein Wollen. Kehre wieder um. Und erzähle eine Geschichte. Lasse sie mich bildern. Pfurchen. Durch Weiß. Über Rauhfaseracker.
Meine Geschichte. Vom Iwan. Dem Schrecklichen. Der kommt. In einem Schlitten. Von Schimmeln gezogen. Mit Frau Schneekönigin, ihren Kindern. Die so laut singen. In ihren Pelzen. Grau. Aus ihrem Grauen. Dem nur die Obstbäume des Gartens zuhören. Jetzt verkleidet. Als Birken. In Schwarz und Weiß. Ohne Laub. Ihre Zweige tanzen. Ohne Grün. Buchstaben dazu.
Ich freue mich. Nicht mehr auf den Weihnachtsmann. Nicht auf das Christkind. Sondern auf Väterchen Frost. Und auf Vaters Blick. In den Spiegel.