Tilman Thiemig

Tilman Thiemig Autor & Texter. Dramaturg & Literaturinszenator
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Winterspiegelbild„Ich möchte endlich mal eine Nordmanntanne. Und auch eine richtige Weihnachtsgans. Nicht immer nur Fich...
22/12/2019

Winterspiegelbild

„Ich möchte endlich mal eine Nordmanntanne. Und auch eine richtige Weihnachtsgans. Nicht immer nur Fichte und Fasan. Selbst geschlagen, selbst erlegt“, sagt Vater und schließt die Küchentür. Vorsichtshalber. Ich höre ihn trotzdem. Obwohl er nun ganz, ganz leise wird. „Dann noch die Eisenbahn für den Jungen. Das Kinderlexikon. Die Theaterkarten für Trudel. Nein, das alte Teil wird jetzt endlich verkauft. Ist sowieso viel zu groß. Und überhaupt. Damit muss mal Schluss sein. Mit Wenigensömmern!“

Mutti köchelt weiter. Kocht. Das weiß ich. Auch wenn ich sie nicht sehe. Nichts von ihr höre. Sie guckt dann immer so. Wenn ihr etwas nicht gefällt. Das sagt viel mehr. Als irgendwelche Wörter. Das sind so stumme Blicke in Großbuchstaben. Mit ganz vielen Ausrufungszeichen. Und ich weiß außerdem, dass sie an dem Spiegel hängt. So wie er an der Wand. In unserem Flur. Seitdem ich denken kann.

Dabei kommt er eigentlich von Vaters Onkel. Aus dessen Rittergut. Wenigensömmern. So ein kalter Name! Aber das Dorf liegt ja auch im Osten. In einem Land, das Drüben heißt. Onkel Erich hat ihn damals in seinem Pferdewagen mitgenommen. Damals. Vor über 20 Jahren. Das ist eine ziemlich lange Zeit, wenn man erst sieben ist.

Dann ist er gestorben. Hat Vater den Spiegel vererbt. Dazu einen Säbel. Ein Gewehr. Ein Fotoalbum. Und einen Traum. Einen kaputten Traum. Denn eigentlich hatte er auch das Gut erben sollen. Aber dann „ist der Iwan gekommen“, wie Große Omi immer sagt. Sich dabei eine Träne unterm Auge verreibt.

Der Iwan! Ich muss immer an Iwan den Schrecklichen denken. Den bösen Zaren aus dem Film von Professor Flimmerich. Seine Frau ist die Hexe Babajaga. Oder besser noch die Schneekönigin. Die ist sehr schön, aber kalt. Und statt Kindern haben sie Wölfe. Die laut singen. Ganz falsch. Die passen eigentlich alle richtig gut nach Wenigensömmern.

Mutti findet das auch. Sie guckt dann immer so, wenn Große Omi wieder davon anfängt. Von der alten Geschichte. Rittergut. Wenigensömmern. Und der Iwan. Den Spiegel mag sie aber trotzdem sehr gern. Sie streichelt ihn sogar manchmal. Gibt ihm ein kleines Küsschen.

Und im Dezember schneidet sie Zweige vom Kirschbaum. Dem großen mit den wilden Augen im Stamm. Stellt sie in eine hohe Vase. Vor den Spiegel. Wo sie sacht erwachen. Aus dem Winterfrost. Blühen lernen. Blüten lächeln lassen.

Dann wird es immer richtig lebendig hinter dem Glas. Ich stehe jedes Jahr wieder ganz oft davor und schaue zu. Ihnen. Höre sie. Die vielen Bienen. Die dicken Hummeln. Ein, zwei, drei Schmetterlinge gesellen sich dazu.

Sie kommen alle aus dem Garten. Dem verzauberten. Der irgendwo zwischen der Tapete und der Rückwand sein muss. Wo genau, weiß ich nicht. Obwohl ich die Stelle untersucht habe. Sehr gründlich. Doch das ist nicht so wichtig. Wichtig ist, dass sie da sind. Brummeln und summen und tanzen.

Wie aufgeregt sie sind! Weil sie ja zu den Kirschblüten wollen. Es aber nicht schaffen. Drei oder sieben Mal gegen die Scheibe bloppeln. Bevor sie weiterziehen. Ein bisschen taumelig noch. Wieder zu den Obstbäumen und Blumen im Garten. Dort ihr Glück suchen. Manchmal kann ich dort einen kleinen Jungen sehen. Der durch das Gras springt. Sich hinterm Johannisbeerstrauch versteckt. Mir ähnlich sieht. Aber andere Anziehsachen trägt.

Und der jetzt den Spiegel verkaufen will. Dabei brauche ich keine Eisenbahn. Überhaupt nicht. Gut, auf das Lexikon freue ich mich schon. Die vielen neuen Wörter. Besonders die schwierigen. Ein, zwei, drei Marzipankartoffeln wären auch fein.

Aber dafür auf die Bienen verzichten? Die Brummelhummeln? Die ein, zwei, drei Schmetterlinge? Die dann wegfliegen werden. Fernweit. Genauso weit wie der Weihnachtsmann. Das Christkind. Fernweitweg. In ein Land, das hinter der Tapete wohnt. Hinter der Wand. Der Mauer. Der Zeit.

In der Nacht stehe ich auf. Gehe in den Flur. Sehe das weiße Feld. Sehe das Vermissen. Das Fehlen. Vater hat sein Wollen wahrgemacht. Ich gehe zurück. In mein Zimmer. Hole meinen Tuschkasten. Pinsel. Buntstifte. Wachsmalkreiden. Mein Wollen. Kehre wieder um. Und erzähle eine Geschichte. Lasse sie mich bildern. Pfurchen. Durch Weiß. Über Rauhfaseracker.

Meine Geschichte. Vom Iwan. Dem Schrecklichen. Der kommt. In einem Schlitten. Von Schimmeln gezogen. Mit Frau Schneekönigin, ihren Kindern. Die so laut singen. In ihren Pelzen. Grau. Aus ihrem Grauen. Dem nur die Obstbäume des Gartens zuhören. Jetzt verkleidet. Als Birken. In Schwarz und Weiß. Ohne Laub. Ihre Zweige tanzen. Ohne Grün. Buchstaben dazu.

Ich freue mich. Nicht mehr auf den Weihnachtsmann. Nicht auf das Christkind. Sondern auf Väterchen Frost. Und auf Vaters Blick. In den Spiegel.

Alle Jahre wieder. Ich wünsche rundum frühlingsfrohe Ostertage.
20/04/2019

Alle Jahre wieder. Ich wünsche rundum frühlingsfrohe Ostertage.

Osterblumen

Artur träumt mit offenen Augen. Die matt ausschauen. Wie das Fenster in unserem Gästeklo. Oder meine Zunge. Wenn ich Fieber hab. Heute ist mir auch so. Heiß. Artur aber friert. Seine Haut ist ganz rot und blau. Weiße Lianen ranken sich kreuz und quer.

Natürlich weiß ich, dass das nicht der echte Artur ist. Dessen Fell umgestülpt am Regal mit dem Kompott hängt. Kirschen, Birnen und auch Apfelmus. Nein, den echten Artur hat das Peterle geholt. Der fette Kater von Glindemanns.

Nur zwei Tage nachdem ich ihn gefunden hatte. Im Sandkasten. Drum herum eine Handvoll Eier in Buntstaniol. Die ich nicht mag. Ihn aber umso mehr. Endlich! Obwohl ich mich schon wunderte, dass der Osterhase kleine Osterhäschen bringt. Ich habe mich auch gefragt, ob dass sein Sohn ist.

Zwei Tage später war mein Schön vorbei. Und jedes Mal, wenn Vater wieder einen Meister Lampe oder ein Karnickel nach Hause bringt, muss ich an ihn denken. Schaue auch immer zu, wenn die Beiden im Keller sind. Und sammele das Blumenweich in einer Zigarrenkiste. Wie das kuschelduftet!

Nächste Woche ist wieder Ostern. Und ich habe einen Wunschzettel geschrieben. Auch wenn man dass eigentlich nur für den Weihnachtsmann macht. Doch ich möchte nur nicht, dass mir der Osterhase wieder eines seiner Kinder bringt. Weil ich Artur nicht vergessen will.

Statt dessen habe ich mir ein Spiegelei gewünscht. Nicht so eines, wie es Vater gerne zu Abend ist. Mit Speck und Schwarzbrot. Nein. So ein richtiges Ei. Wie von einem Huhn. Oder einem Strauß. Ja. Richtig groß. Und wenn ich es anpiekse, risswandert die Schale auf. Dann schlüpft ein kleiner Spiegel daraus. Mein ganz eigener.

In den ich immer schauen kann. Wenn ich mir etwas erzähle. Und dann sehe, dass mir einer zuhört. So wie Artur.

‚Spinnenwege. Aus den Aufzeichnungen des S.W.’

Nun ist es so weit: Mein „Ahrenshooper Todholz“ ist erschienen*. Ich freue mich sehr, zumal am kommenden Freitag, 22.03....
15/03/2019

Nun ist es so weit: Mein „Ahrenshooper Todholz“ ist erschienen*. Ich freue mich sehr, zumal am kommenden Freitag, 22.03., ab 18.00 Uhr ein kleiner Beitrag darüber im Rahmen des Magazins „Land & Leute“ auf NDR MV ausgestrahlt wird und ich einen Tag später das Buch auf der Leipziger Buchmesse in einer kurzen Lesung vorstellen darf: 15.30 Uhr, Halle 3, Stand D 102 beim Hinstorff Verlag. Vielleicht sieht man sich ja dort? Oder bei einer der diversen Lesungen, die demnächst folgen werden: 04.04. Galerie Theater Wolfsburg, 04.05. Vita-Villa Wolfenbüttel, 26.05. Botanischer Garten Braunschweig und 08.06. Malchens Cafe´ Ahrenshoop…

* Für den Fall der Fälle: Bei einigen Buchhandlungen geistert im System noch das ursprüngliche Erscheinungsdatum (Juli 2019) herum. Einfach beharrlich sein und darauf hinweisen, dass Prolit lieferbereit ist...

Nun ist es auch für mich an der Zeit, meine Glückwunschraketen abzufeuern. Feinstaubfrei. Ich wünsche rundum ein großart...
31/12/2018

Nun ist es auch für mich an der Zeit, meine Glückwunschraketen abzufeuern. Feinstaubfrei. Ich wünsche rundum ein großartiges, glückreiches und gesundes 2019. Apropos: Für mich steht im Neuen Jahr tatsächlich etwas Neues an. Im März erscheint im Rostocker Hinstorff Verlag mein Künstlerkrimi "Ahrenshooper Todholz", den ich am 23. März auf der Leipziger Buchmesse vorstellen darf...

Stechpalmengeist„Sieht ja aus wie beim Tommy. Oder Ami.“ Vaters Blick umkreiselt mürrisch den Kranz an der Tür. Aus Stec...
23/12/2018

Stechpalmengeist

„Sieht ja aus wie beim Tommy. Oder Ami.“ Vaters Blick umkreiselt mürrisch den Kranz an der Tür. Aus Stechpalmengezweig. Rote Beeren. Blätterglanz. Spitzscharf. Mutti hat ihn gebastelt. Ist ganz stolz auf ihr Werk. Das Vater bemürrt. Bloß weil er Tanne lieber mag. Zu Weihnachten. Im Advent.

„Allerdings, das haben die alten Germanen auch schon gemacht. Ihre Behausungen und Stallungen damit geschmückt. Um Feen und Waldgeister zu beschwören. Die guten. Damit sie das Zuhaus beschützen. Ja, Hülsebusch. Stechlaub. Stacheleich. Ilex aquifolium!“ Ich mag es, wenn Vater mir die Namen der Pflanzen nennt. Besonders die lateinischen. Die klingen so schön. Ich freu mich schon, wenn ich in zwei Jahren aufs Gymnasium komme. Dann lerne ich auch Latein.

Heute lerne ich erst einmal den Stechpalmengeist kennen. Abends. Nein, es ist schon mitten in der Nacht. Als es an der Haustür klopft. Christkind oder Weihnachtsmann können es nicht sein. Es ist ja noch zwei Tage hin. Bis Heiligabend.

Ich bin trotzdem neugierig. Stehe auf. Schleiche durch das Kinderzimmer. Den Korridor. Auf leisen Sohlen. Warum Mutti, Vater, Kleine Omi das Klopfen nicht hören? Jetzt ruft sogar jemand: „Irmchen, mach doch auf!“ Irmchen? Das ist doch Frau Uhlenhaut. Unsere Nachbarin.

Vorsichtig blinzle ich durch den Briefkastenschlitz. Und sehe zwei Beine. In blauer Montur. Herr Uhlenhaut arbeitet mit Autos. Jetzt tanzt er ein bisschen. Einen Schritt vor. Einen nach hinten. Und einen, zwei nach links. Oder rechts. Er klopft nicht mehr. Und ruft auch nicht. Nach Frau Uhlenhaut. Er grummelt nur. Böse. In seine Bartstoppeln hinein. Schimpfwörter. Die ich nicht sagen darf.

Dafür antwortet der Stechpalmenkranz. Singt. In hohem Ton. Und fremder Sprache. Latein ist es nicht. Aber es klingt schön. Lautleis.

Nur kurze Zeit später antwortet es vom Hof. Dunkle Stimme. Ganz tief. Wie Pastor Dosse. Doch es ist der Walnussbaum. Juglans regia aus der Familie der Juglandaceae. Herr Uhlenhaut hört den Gesang nicht. Er hat sich hingesetzt. Schnarcht Bierschnapstraum. Jetzt kann ich ihn sehen. Und einen Schatten. Der immer weiter singt. Im Duett mit dem Stechpalmengeist.

Eigentlich habe ich ein bisschen Angst. Aber ich will es auch wissen. Wer da im Walnussbaum wohnt. In dem der Blitz einschlug. Als Vater ein Kind. Ich öffne die Tür. Da erwischt mich was. Oder wer? Auf jeden Fall schwebe ich von dannen. Reise durch die Zeit. Sehe einen Film. Ohne Kino. Und Meister Nadelöhr. Sehe, wie die Siedlung vor hundert Jahren aussah. Vor fünfhundert. Tausend. Und früher. Spargel. Mönche. Feuerstein. Ein Schachtelhalmhain.

Dabei dauert der Film nur zehn Minuten. Höchstens eine Viertelstunde. Denn kaum nachdem wir Herrn Uhlenhaut nebenan abgesetzt haben, landen wir schon wieder. Unterm Walnuss. Schütteln uns Flugschnee aus dem Haar. Obwohl die vom Baummann eher wie Wurzeln ausschauen. Oder die Adern von Blättern. Ganz lang sind sie. Und zauselig. Richtig wild. Aber eigentlich ist er freundlich.

Und lädt mich ein. Ihn zu besuchen. In seinem Daheim. So sitzen wir wenig später auf kleinen Stühlen. Mitten im Stamm. Ganz tief im Holz. Und trinken Walnusslikör. Aus hölzernen Krügelchen. Obwohl ich noch ein Kind bin. Aber die Stechpalmenfrau sagt, dass das schon in Ordnung sei. Sie hat der Nussmann auch eingeladen. Gemeinsam bringen mir die beiden die Sprache der Bäume bei. Und die ihrer Geister. Das hört sich gut an! Ich lerne schnell. Auch wenn meine Zunge und die Lippen ganz schön ins Schwitzen kommen. Bei dem ganzen Auf und Ab. Purzelbäumen. Silbensaltos. Trillern und Trällern. Was bei ihnen Ästeln und Stämmeln heißt.

Zur dritten Stunde des neuen Tages bringen mich Frau Ilex und Herr Juglans ins Bett. Sie versprechen mir, morgen weiterzumachen. Mit dem Unterricht. Und zum Abschied schenkt er mir eine Walnuss. Eine goldene. Die darf ich aber niemals nicht aufmachen. Weil da mein Leben drin wohnt.
Aus: Spinnenwege. Die Aufzeichnungen des S.W.

Sternschnuppenkönig„Das ist doch hier ein Grippenspiel!“ Frau Degenhardt ist sauer. Weil so viele Kinder krank sind. Und...
20/12/2017

Sternschnuppenkönig

„Das ist doch hier ein Grippenspiel!“ Frau Degenhardt ist sauer. Weil so viele Kinder krank sind. Und nicht zur Probe gekommen. Doch auch mit denen, die da, schimpft sie. Anstatt froh zu sein.

Bei mir stört sie das Fernglas von Vater. Und dass ich dem Christkind mein Mikroskop schenken will. Statt der albernen Myrrhe. Dabei ist das doch viel praktischer für einen kleinen Heiland. Damit kann er Krankheiten untersuchen. Heilen. Das ganz Kleine ganz groß sehen. Das ist doch wichtig! Und Vaters Jagdglas brauche ich, um den Stern zu beobachten. Schließlich bin ich ein Sterndeuter. Auch wenn Frau Degenhardt sagt, dass wir drei Könige sind.

Thomas und Volker gefällt das. Das mit dem König sein. Sie haben schon Kronen aus Goldfolie auf. Und ihre Sheriffsterne an den Umhängen. Sie sind Zwillinge. Und ihr Papa Küster in der Klosterkirche.

In der es ziemlich kalt ist. Die armen Mönche, die hier früher gelebt haben. Und immer zum Beten mussten. Jede Stunde. Oder beinahe. Einen von ihnen sehe ich. Er hat sein Grab verlassen. Und sich neben mich gesetzt. Auf die Bank in der Sakristei. Gerade in dem Augenblick, in dem ich mein altes Kaugummi unter das Holz geklebt habe.

Aber er verpetzt mich nicht. Sondern betrachtet mein Fernglas. Und das Mikroskop. Die anderen Kinder können ihn nicht sehen. Das kenne ich schon. Dass ich manche Dinge nur für mich alleine erlebe. Nicht nur mit den Augen. Sondern auch höre. Und rieche. Leider. Der Mönch hat ein bisschen Mundgeruch. Leise flüstert er mir nun etwas ins Ohr.

„Et mott doch mehr gewen twischen Himmel un Eere! Ick kann et jüch nich recht beschriewen, man mott et e'seihn hemm'n. Da gunk ick doch einet Nachts in'n Dörpe lang un seih da vorr mick lauter lüttje gluije Pünktchen so wie en langen, gluen Swanz vorr mick opper Strate ob un dal huppen. Et was einfach furchtbar, un mick brak dä Swet ut alle Poren ruter. Ick wörre ganz nass. Dat mott woll dä Gluhswanz ewest sien...“

Weiter kommt er nicht. Frau Degenhardt erscheint in der Tür und schrillt mit lauter Stimme irgendwelche Befehle. Unsere Lehrerin macht sogar dem Mönch Angst. Rasch springt er auf. Verschwindet hinter dem schweren Stein an der Wand. Neben der Vase mit den Kiefern. Es nadelt ein wenig. Als ich auf seinen Platz schaue, entdecke ich ein kleines Knöchelchen. Ich stecke es in meine Manteltasche und werde gut darauf aufpassen. Besser, als wenn es Frau Degenhardt findet. Oder Pastor Dosse. Oder der Papa von Thomas und Volker.

Jetzt werden wir zur Bühne gescheucht. Direkt vor dem Kreuz. Und unter der Kanzel. In der Pastor Dosse sitzt und uns beobachtet. Wie Vater auf der Jagd. Nur ohne Büchse. Da alle Mädchen krank sind, muss Michael die Maria spielen. Eigentlich war er als Hirte eingeplant. Oder als Schaf? So genau weiß ich das nicht. Die anderen Jungen lachen auf jeden Fall. Über ihn. Dabei macht er seine Sache gut. Meine Rolle langweilt mich. Ich darf weder mit dem Fernglas den Himmel beobachten. Noch das Mikroskop überreichen. Am liebsten würde ich ja die Geschichte vom alten Mönch erzählen. Und Frau Degenhardt fragen, ob sie glaubt, dass Balthasar, Kaspar und Melchior dem Jupiter gefolgt sind. Oder einem Kometen oder aber einem Meteoriten? Aber dann wird sie nur wieder wütend. Wie bei den meisten meiner Fragen. Bei der Aufführung an Heilig Abend werde ich auch krank sein.

Auf dem Nachhauseweg übe ich schon einmal. Fieber und Schüttelfrost. Das kann ich gut. Kleine Omi ist ganz besorgt. Erzählt von heißer Zitrone und Hollerbuschblüten. Ich mag keinen Gesundsaft. Und auch nicht, wenn sie mir die Kapuze vom Dufflecoat über den Kopf zieht. Sie mahnt zur Eile.

Wir gehen an den Teichen vorbei. Im Mondschein hört man das Eis wachsen. Und die Fische darunter nach Luft schnappen. Thomas und Volker freuen sich. Sie haben sich vom Weihnachtsmann Schlittschuhe gewünscht. Schläger auch. Und einen Puck. Sie planen schon ein Turnier. Für die Ferien. Streiten sich, wer Alois Schloderer sein darf.

Ich hoffe nur, dass der Weihnachtsmann kapiert hat, dass ich andere Wünsche habe. Um sicher zu gehen, taste ich nach dem Knöchelchen in meiner Manteltasche. Prompt ist der Mönch da. Zieht seine Kreise. Tanzt durch das Kalt. Über das Glas der Kristalle. Läuft ein Lied. Das ich trotz der Kapuze höre. Ein feiner Ton. Wie der von Vaters Hundepfeife.

Dann höre ich auch ihn. Den Gluhswanz. Er tost am Himmel entlang. Die Sternbilder hindurch. Kreuzt den Großen Wagen. Fliegt dem Kleinen Bär beinah die Schnauze ab. Zeigt dem Polarstern eine lange Nase. Selbst Jupiter hüpft ein Stück beiseite. Verlässt seine Bahn. Damit sie nicht zusammenstoßen. Da oben geht es drunter und drüber.

Hier unten unterhält sich Kleine Omi. Mit Frau Schmidt. Über Wadenwickel. Hühnerbouillon und Zwiebelsud. Thomas und Volker streiten sich. Wer besser im Eishockey ist. Landshut. Bad Riessersee. Oder Kanada. Ihr Gezeter schmeckt wie die Haut auf kaltem Kakao.

Den Mönch stört es aber nicht. Immer schneller sein Kufentanz. Ein Kreisel. Mir wird ganz schwindelig. Dem Gluhswanz auch. Ich reibe an dem kleinen Knochen. Und die Kutte wird zum Propeller. Ob ich das war? Auf jeden Fall blüht jetzt ein richtiger Wirbelsturm. Mitten auf dem Kreuzteich. Ganz nahe an der kleinen Insel. Frau Schmidt und Kleine Omi sprechen nun über Dominosteine und Kohlrouladen. Thomas und Volker seifen sich ein. Gucken nur einen kurzen Augenblick, warum der viele Schnee nicht von oben kommt. Sondern vom Wasser. Das doch gefroren.

Bevor sie etwas sagen können, hat uns der Gluhswanz erreicht. Ihrkinderleinkomet. Heißt er nun für mich. Er saust herbei. Hernieder. Lauter glühende Punkte. Klitzeklein. Ein langer Schweif. Feuerrot. Goldgestein. Sternenstaub. Ich wünsche mir eine Sonnenbrille.

Und der Mönch betet. In Latein. Das ich erst nächstes Jahr verstehen werde. Wenn ich auf das Gymnasium komme. „Ecce crucem Domini! Fugite, partes adversae! Vicit Leo de tribu Juda, radix David. Alleluja!” Seine Espenlaublippen stottern die Worte hervor. Wieder und wieder. Warum nur? Er hat den Gluhswanz doch angelockt? Der fühlt sich anscheinend wohl. Hier. Dreht noch drei, vier Runden. Und hüpft dann mitten in den Teich. Durch das Eis hindurch. Wie das zischt und dampft! Er scheint an seinem Ziel zu sein. Ob das Jesuskind ein Karpfen ist?

Die Frage muss ich wohl laut gestellt haben. Kleine Omi fühlt meine Stirn. Zupft die Kapuze zurecht. Mahnt zur Eile. Schnellere Schritte. Frau Schmidt scheucht ihre Söhne voran. Die Siedlung kommt näher. Da rumpelt es hinter uns. Und Eisbrocken fliegen herum. Es leuchtet die Straße entlang. Über Acker. Den Friedhof linkerseits. Rechts bis zum Wald. Der Gluhswanz ist wieder gestartet. Er war wohl doch noch nicht am Ziel.

Ich greife erneut nach dem Knöchelchen. Aber der Mönch bleibt verschwunden. Nur Gänse. Schreien die Wolken an. Aufgescheucht vom Lärm. Schwäne. Die Stockenten natürlich. Rehe hetzen umher. Ein Fuchs. Drei Eichhörnchen auch. Hunde schlagen an. Weiden wandern. Mit wehen Zweigen. Wir gehen weiter. Bald wieder in Dunkelheit. Es schneit. Kiefernnadeln.

Aus: Spinnenwege. Die Aufzeichnungen des S.W. Gesammelt und vorgestellt von Tilman Thiemig

Erhöhtes BeförderungsentgeltNein, es wird nicht Björn Höcke sein! Auch nicht Frauke Petry oder der gemeine Mark aus Bran...
18/02/2017

Erhöhtes Beförderungsentgelt

Nein, es wird nicht Björn Höcke sein! Auch nicht Frauke Petry oder der gemeine Mark aus Brandenburg mitsamt seinem Baseballschläger, ja nicht einmal Horst Seehofer, sondern der Briefträger. Oder die, respektive der unbekannte Verwaltungsfachangestellte. Der oder die nämlich, welche bei manch einem aus meinem Schülerkreis der sogenannten Flüchtlinge mit ihrem Tun und Treiben von Tag zu Tag mehr den Entschluss wachsen, reifen lassen, dann doch, ungeachtet aller Schwierigkeiten und Gefahren wieder in die Heimat zurückzukehren.

Wobei es zunächst der nicht unbedingt ursächlich verantwortliche Briefträger, beziehungsweise Zusteller ist, der bei vielen binnen kürzester Frist zum Alp, Gespenst und unheilbringendem Dämon in Schwarzgelb mutiert. Dabei sind es nicht nur die diversen zugestellten Bescheide und Aufforderungen der diversen Verwaltungsfachangestellten der diversen Behörden, die beim Empfänger Angst und Schrecken auslösen. Dieses Phänomen könnte man, positiv betrachtet, als ersten Schritt der Integration betrachten. Warum sollte es diesen Menschen anders als uns, den Einheimischen gehen, für die zumeist ja auch nur keine Post gute Post bedeutet?

Nein, die Formen der Irritation, die Quellen der Verwirrung sind vielfältiger, vielgestaltiger. So haben zum Beispiel Schüler von mir, die kaum drei Monate in Deutschland weilten und gerade gut eine Woche in ihrem neuen Dominzil allen Ernstes Mailings von MDM Deutsche Münze aus Braunschweig, Milupa oder Müller-Reisen erhalten und zum Teil, bemüht ausgefüllt, beantwortet und zurückgesandt. Sie wollten ja schließlich nichts falsch machen... Nun sitzen sie da, auf ihrer neuen Gedenkprägung der Bundesrepublik Deutschland „Wir schaffen das!“ von 2015 in der Prägequalität „Polierte Platte“und wundern sich, dass sie für eine 10 Euro-Münze 48,50 Euro plus Versandkosten bezahlen müssen... Oder haben eine einwöchige Kreuzfahrt auf der AIDA durch die zauberhafte Inselwelt der Ägäis gebucht. Dabei waren sie doch erst vor kurzem in der Gegend...

Zumeist landet dann derlei Korrespondenz bei mir auf dem Schreibtisch und wird zum Anschauungsobjekt für lebensnahe Einweisungen in unsere – ja – Kultur. Oder mündet – kürzer gefasst – in der Warnung: „Lasst euch nicht verarschen! Passt bloß auf!“

Doch die Fallstricke sind mannigfaltig und lauern allerorten, bisweilen fahren die Gefahren als stete Gefährten sogar mit. Zum Beispiel in Bus und Bahn. So ist das noch in meiner Jugend als Alltagsabenteuer beliebte „Schwarzfahren“ der Spitzenreiter unter den kleinen Verfehlungen meiner Schülerschaft. Wobei keiner von ihnen bewusst oder gar vorsätzlich ohne einen Fahrschein gefahren ist, als er dann doch erwischt wurde. Nein, sie haben nur Schwierigkeiten mit den feinen Raffinessen der jeweiligen Beförderungstarife, Entgeltzonen und sonstigen Geschäftsbedingungen. Und geraten so beim Weg von A nach B ins Stolpern.

Exemplarisch sei nur der Fall eines Schülers aus Königslutter (A) ausgeführt, der an einem Sprachkurs in Wolfsburg (B) teilnimmt. Ein solcher Kurs wird erfreulicherweise von der Arbeitsagentur oder vom Jobcenter gefördert und auch die Fahrtkosten werden übernommen. So weit, so gut, wunderbar. Allerdings werden sie erstattet, das heißt, derjenige muss sich zuerst die entsprechende Karte kaufen und bekommt später sein Geld zurück. Auch eigentlich gut, obgleich die finanzielle Überbrückung oft etwas kniffelig ist.

Doch zunächst muss er sich bei einem der verschiedenen Anbieter einen Antrag auf Ausstellung einer Kundenkarte im Schüler- und Ausbildungsverkehr abholen, ausfüllen, abgeben und bearbeiten lassen. Was aber nicht immer funktioniert. Weil er zwar zur Schule geht, aber dennoch kein Schüler im eigentlichen Sinne der Definition einer Kundenkarte im Schüler- und Ausbildungsverkehr ist. In Braunschweig bei der Braunschweiger Verkehrs GmbH oder aber der KVG in der Verbundgesellschaft Region Braunschweig, deren Gebietszugehörigkeiten auch so eine Sache für sich sind, klappt das aber manchmal trotzdem, bei der Deutschen Bahn erstaunlicherweise meistens und bei der Wolfsburger Verkehrs GmbH nur, wenn eine bestimmte Dame Dienst hat. Deren Verdienste ich nicht laut genug würdigen kann, da sie tatsächlich Hilfe angedeihen lässt. Leider arbeitet sie in Teilzeit und die meisten ihrer Kollegen gefallen sich eher darin, wie Figuren und Erfüllungsgehilfen aus einer Geschichte von Franz Kafka zu agieren oder – simpler formuliert – die blöden Flüchtlinge im Labyrinth der Regularien herumzuscheuchen und von Pontius nach Pilatus, das heißt von der WVG zur BVG, von dort zur KVG, zum Landkreis oder der Gemeinde, dem Rathaus und wieder zurück zur KVG, BVG, WVG zu schicken. Oder sonstwohin.

Nicht minder aufwendig dann die Bearbeitung des Erklärungsbogens zur Kostenerstattung bei Teilnahme an einer Maßnahme zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung nach § 45 Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II. Ich kann auf jeden Fall versichern, dass das Prozedere zum Erwerb eines gültigen Fahrausweises zwar eine gute Möglichkeit bietet, um meinen Schülern die Kunst der deutschen Komposita (Fahrt-kosten-rück-erstattungs-antrags-erklärungs-bogen) nahezubringen, aber ansonsten nicht ohne ist und erst einmal durchschaut werden muss. Was mir, wozu habe ich Abitur und studiert, mit einem gewissen Maß an Konzentration und Rechercheaufwand mittlerweise auch gelungen ist. Und erfreulicherweise glückt es uns so zusammen fast immer, die Verstrickungen des öffentlichen Nahverkehrs aufzulösen.

Manchmal jedoch passiert es dann aber doch, dass einer meiner Klienten zu weit geht, zu lange fährt, zu spät umsteigt oder sich in falschen Zonen bewegt. Dann flattert ein Bescheid über ein erhöhtes Beförderungsentgelt ins Haus, das nicht unbedingt ein Zuhause ist. Und der die Nerven flattern lässt. Ayman, ein besonders spitzfindiger wie tiefsinniger junger Kurde aus Syrien stellte neulich sogar einen Bezug zwischen Beförderung und Ausweisung her und mutmaßte, dass letztere nun der zu zahlende Preis für seine Verfehlung sei – sein erhöhtes Beförderungsendgeld...

Ayman gehört zu jener eingangs erwähnten Gruppe von Zuwanderern, die eingedenk der Zustellungen und Zustände der deutschen Leitkultur uns bald nicht mehr länger ihre Anwesenheit zumuten wollen und werden. Bei dem angeführten Beispiel handelt es sich ja sogar um einen eigentlich positiven Prozess zum Wohle des Asylsuchenden, der aber dennoch, ungeachtet des guten Willens und Wohlwollens eines Großteils der darin Involvierten ins Absurde verkompliziert wird und das Willkommen verkommen, verkümmern lässt. Auf die mannigfachen negativen Vorgänge will ich an dieser Stelle gar nicht weiter eingehen...

Doch auch die guten Taten zeigen Wirkung. Daher rechne ich damit, dass Ayman noch in diesem Sommer nach Homs zurückkehren wird. Daran ändert auch sein schwarzrotgoldener Deutschlandschal nichts, mit dem er nun schon den zweiten deutschen Winter seinen Willen zur Eingliederung durch die Kälte der norddeutschen Tiefebene demonstriert. Ihn wird er mitnehmen. Kalt ist es auch ohne Dach überm Kopf.

Seine Schwester Nourhan hingegen, im übrigen gänzlich schalfrei, ist nicht nur die bessere Sprachschülerin – wie überdies die meisten Mädel – sie ist auch pragmatischer. Und hat Humor, schwarzen? So will sie in Deutschland bleiben und hat sich inzwischen tatsächlich erfolgreich um einen Ausbildungsplatz beworben. Als Fachangestellte bei der Arbeitsagentur. Eigentlich ein Musterbeispiel für gelungene Integration. Zumal sie vor kurzem angefangen hat, Kafka zu lesen....

Nicht ungeachtet, sondern eher trotz, ja zum Trotz der traurigen Ereignisse und Geschehnisse in Berlin wie andernorts mö...
21/12/2016

Nicht ungeachtet, sondern eher trotz, ja zum Trotz der traurigen Ereignisse und Geschehnisse in Berlin wie andernorts möchte ich auch dieses Jahr meine "Tradition" fortsetzen, euch mit einer weiteren kleinen Betrachtung aus meiner Sammlung "Spinnenwege" den Weg in ein friedvolles und auch frohes Fest zu weisen. Ich wünsche euch gute Tage!

Rotkohlbock

„Rudolph, the red-nosed reindeer...“ Das Lied habe ich von Mutti gelernt. Die hat nach dem Krieg beim Amerikaner gearbeitet. Als „Froillein“, wie Große Omi manchmal sagt und dabei ganz komisch guckt. Große Omi ist die Mutter von Vater und mag Mutti nicht so sehr. Vater selbst mag den Amerikaner nicht. Darum soll ich das Lied auch nicht immer singen, wenn wir im Wald sind.

Für Vater ist an Weihnachten vor allem der Weihnachtsbaum wichtig. Und die alten Geschichten. Von der wilden Jagd, den rauhen Nächten, von Frau Holle, Odin und dem Jäger Hackelberg. Die erzählt er mir gerne, bei der Pirsch oder auf dem Hochsitz. Wenn wir uns zum Beispiel um den Braten für Weihnachten kümmern. Der ist ihm ebenfalls immer sehr, sehr wichtig.

Meistens gibt es Rehbock. Kein Rentier. Dafür aber Rotkohl. Und Klöße. Am Ersten Feiertag. Dann kommen unsere Gäste. Zuerst Onkel Kurt und Tante Gisa, die einmal Opernsängerin werden wollte. Nach dem Essen singt sie immer und Kleine Omi spielt dazu Klavier. Die Lieder von Tante Gisa mag Vater auch nicht. Manchmal ist es wirklich schwer, es ihm recht zu machen. Dieses Fest sind wieder Pastor George und seine Frau Hedwig dabei. Der hat mich getauft und auch schon Mutti.

Und dann sind da noch Tarek, Yowhans und John. Unsere „Heiligen Drei Könige“, wie Mutti lächelnd meint. Dabei sind sie eigentlich Werkstudenten bei Siemens, wo Vater arbeitet. Aus dem Morgenland kommen nur Tarek und Yowhans, die in Afghanistan und Äthiopien geboren wurden. Johns Zuhause ist in Ghana. Mutti und Vater laden die Drei gerne zu uns ein. An Ostern und auch zum Fernsehen, wie im letzten Sommer, als in England die Weltmeisterschaft im Fußball war.
Frau Uhlenhaut, Frau Wittenborn und den anderen Nachbarn aus der Siedlung gefällt das gar nicht, dass sich bei uns immer so „Neger und Muselmänner rumtreiben“, wie Frau Wittenborn neulich bei Bäcker Trute zu Kleine Omi gesagt hat. „Besser eine schwarze Haut als eine schwarze Uniform, wie Ihr Gatte...“ hat da Kleine Omi geantwortet und sie stehen gelassen.

Den John mag Kleine Omi besonders gern. Der hat ihr zu Weihnachten ein schönes buntes Kleid geschenkt. Das hat sie gleich angezogen. Nun reicht sie ihm die Schüssel mit den Klößen. Die sehen aus wie Schneebälle.

Das muss sich Onkel Kurt auch aufgefallen sein. Schon greift er zu, schnappt sich einen und wirft ihn Pastor George an den Kopf. Und tatsächlich, der Kloß zerstäubt an dessem roten Ohr und lässt es auf seinem schwarzen Anzug schneien. Der Gottfried lässt sich das nicht gefallen und wirft nun selbst einen Knödel, trifft aber Tante Gisa. Das gefällt sowohl Onkel Kurt wie auch Vater. Prompt ist der ebenfalls dabei und zielt auf mich. Trifft aber nicht, sondern das Klavier. Jetzt macht auch Kleine Omi mit. Und Mutti, Große Omi, Tante Gisa und Hedwig ebenso. Flugs ist eine tolle Schneeballschlacht zugange. Nur Tarek, Yowhans und John zögern noch. Sie haben gute Manieren.. Erst als Vater und der Pastor sie tüchtig mit Rotkohl einseifen, trauen sie sich.

Plötzlich öffnet sich die Tür und vier Pferde, zwei Kamele, ein Pony und fünf Rentiere traben herein. Die Rentiere sind für die Damen, das Pony für mich. Einen Augenblick darauf sind auch noch zwei Hunde und zwei Raben im Esszimmer. Hui, das ist ganz schön eng! Darum klettern wir alle auf die Reittiere, halten uns gut fest und los geht die wilde Jagd. Erst nur durch unseren Garten. Zum Üben.

Doch als sich selbst Tante Gisa gut im Sattel halten kann, wird es ernst. Das Tempo steigert sich und plötzlich sind wir allesamt in den Lüften, schweben, fliegen, rauschen durch die Wipfel von Kirschbaum, Kiefer und Birke. Die Zweige peitschen uns das Gesicht und Tante Gisa fängt prompt an zu singen: „Maria durch ein Dornwald ging.“ Mutti und ich schmettern ihr ein „Rudolph, the red-nosed reindeer“ entgegen. Pastor George summt was auf Latein; Vater und Onkel Kurt begnügen sich mit einem brummeligen Hohoho in Wiederholung; Tarek, Yowhans und John stimmen Lieder in ihren Sprachen an. Die Hunde bellen und die Kamele blöken lustig. Ist das ein Lärm. Ein Heidenlärm!

Das sind auch die Worte von Frau Wittenborn, als sie auf ihre Terrasse tritt, um sich zu beschweren: „Unverschämtheit! Was ist denn das für ein Heidenlärm?“ Doch als sie uns sieht, besser erahnt im Grau der Dämmerstunde, hält sie ganz schnell den Mund und flüchtet hektisch mit den Armen fuchtelnd ins Haus. Ob sie Frau Uhlenhaut und Frau Wahnschaffe von ihrem Erlebnis berichtet? Ich glaube nicht.

Aber das braucht sie ja auch gar nicht. Frau Uhlenhaut, Frau Wahnschaffe und die anderen Nachbarn in der Siedlung besuchen wir ja ebenfalls. Bei Fräulein Clodius, der jungen Untermieterin von Glindemanns, stiebitzen Vater, Onkel Kurt und Pastor George sogar noch zwei Nachthemden und drei kleine Unterhosen vom Wäscheständer auf ihrem Balkon. Sie hält die alten Geschichten für Aberglauben. Das hat sie nun davon.

Anschließend geht es wieder nach Hause. Dort füttern Vater und die drei Werkstudenten die Tiere im Garten mit Heu, Klee und Rübenschnitz. Onkel Kurt räumt das Esszimmer auf. Er hat schließlich angefangen mit der Schneeklößeschlacht. Sogar die Fransen vom Teppich kämmt er mit einem kleinen Kamm sauber. Das macht er gerne.

Kleine Omi macht Ragout fin in Pasteten. Mutti läutet das Glöckelein. Dann gibt es schon wieder Essen. Die Erwachsenen trinken Rotwein dazu. Ich Traubensaft. Und einen klitzkleinen Schluck vom Stonsdorfer, den mir Tante Gisa heimlich gibt. Ich habe ihr nämlich gesagt, dass ich es schön finde, wie sie singt.

Als alle außer Tarek, Yowhans und John schon ein bisschen betrunken sind, verabschieden sich unsere Gäste. Wir bringen sie noch zur Pforte. Da entdecke ich ein Rentier, das sich hinter dem Walnussbaum zu verstecken sucht. Kleine Omi hat es auch gesehen. Ob es die anderen Tiere vergessen haben? Oder ob es freiwillig ausgebüchst ist, weil es ihm bei uns so gut gefällt? Kleine Omi und ich beschließen, dass es von nun an hinten im Garten wohnen soll. Zwischen dem Feld mit dem Rotkohl und der Rotdornhecke.

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