05/05/2021
Gewalt in Kolumbien schäumt über
Die Millionenmetropole Cali ist seit Tagen Schauplatz erbitterter sozialer Proteste. Die UNO schlägt Alarm. Tobias Käufer
Den meisten Deutschen ist die Stadt Cali durch die Netflix-Serie Narcos bekannt, einer Novela über den Aufstieg und Fall des Cali-Kartells und der Familie Rodriguez. Nun wird die Stadt erneut Schauplatz von Gewalt. Doch diesmal geht es um soziale Proteste. Wie viele Menschen in Kolumbien seit Ausbruch der Proteste gestorben sind, weiß im Moment noch niemand in dem Staat an der Nordspitze Südamerikas. Mal ist von sechs, mal von 21 Toten die Rede. Die Zahl der Verletzten beläuft sich Medienberichten zufolge auf rund 850, darunter sollen 306 Zivilisten sein. Fakt ist: Seit ein paar Tagen kocht die Volksseele in Cali, der selbst ernannten „Welthauptstadt des Salsa“, über. Mal sind es die wohlhabenden Bürger aus dem reichen Ortsteil „Ciudad Jardin“, die zur Selbsthilfe greifen, um sich gegen Straßenblockaden zu wehren, dann die wütenden Studenten, die sich nach dem Tod zahlreicher Kommilitonen die Trauer und die Wut aus der Seele schreien. Dazwischen ist eine Polizei, die jedes Augenmaß verliert und bisweilen brutal und tödlich zuschlägt. Ein emotionaler Cocktail, der kaum in den Griff zu bekommen scheint. Die Proteste entzündeten sich nach wie vor an einer Steuerreform, die der in die Kritik geratene konservative Präsident Ivan Duque bereits zurückgenommen hat. Die Reform hätte nach Meinung der Demonstranten inmitten der schweren Wirtschaftskrise durch die Corona-Pandemie vor allem die mittleren und geringen Einkommen belastet. Doch nun geht es auch um Duque selbst, dem die jungen Kolumbianer vorwerfen, für die Gewalt gegen die Demonstranten verantwortlich zu sein. Duque selbst spricht von „Vandalismus und urbanem Terrorismus“, den es zu bekämpfen gelte. Richtig ist, dass sich unter die ganz überwiegend friedlichen Demonstranten vereinzelt linksradikale Gruppen mischen, die auf eigene Rechnung agieren und die verhassten Sicherheitskräfte attackieren. So gerieten Polizeistationen in Brand, wurden einzelne Polizisten verprügelt. Umgekehrt gibt es wegen skandalöser Vorgänge in den Reihen der Sicherheitskräfte, inzwischen ein großes Misstrauen in der Bevölkerung. Gespeist wird es nun durch weitere Todesfälle wie die des jungen Künstlers Nicolas Guerrero, getötet bei einer Aktion der gefürchteten Anti-Aufruhr-Einheit Esmad, die in den vergangenen Jahren immer wieder wegen Tötungen bei Demonstrationen in die Kritik geraten ist. Inzwischen ist das Tischtuch zwischen der jungen Generation und dem jungen Präsidenten Ivan Duque, der 2018 im Alter von 41 Jahren ohne Regierungsvorerfahrung als Schützling des Ex-Präsidenten Alvaro Uribe sein Amt antrat, zerschnitten. Ausgerechnet einer der jüngsten Regierungschefs in der Geschichte des Landes hat seinen Draht zur Influencer-Szene, zur jungen Generation verloren. Wie es weitergeht ist ungewiss: In Cali fordern die Demonstranten den Rücktritt des Präsidenten. Die Politik geht nun auf die Protestierenden zu, bietet ihnen einen Dialog und einen runden Tisch an. Doch den gab es bereits nach der ersten Protestwelle 2019, dann kam Corona und es wurde kaum etwas umgesetzt. Dass Duque die Steuerreform zurückgezogen hat, werten die Demonstranten als ein einen ersten Erfolg des Volkes. Weitere Forderungen werden folgen. Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte schlägt angesichts der anhaltenden tödlichen Gewalt bei den Protesten Alarm. Polizisten hätten in Cali auf Demonstranten geschossen und viele Menschen verletzt und getötet, erklärte eine Sprecherin des Hochkommissariats am Dienstag in Genf. Seit Beginn der Proteste Mitte vergangener Woche seien Menschenrechtler eingeschüchtert und bedroht worden, betonte die Sprecherin. Das Hochkommissariat erinnerte die Behörden an ihre Verpflichtung, Menschenleben zu schützen. Die Menschen hätten das Recht, sich friedlich zu versammeln.