12/09/2020
"Passages of perception into structures" ist eine digitale Ausstellung mit Arbeiten von Ruth Gilberger, Stefan Hirsig, Edward Kienholz, Langlands & Bell, Masch, moseke, Veronika Natter, Karl Renziehausen, Olaf Schirm, Arno C. Schmetjen und Susanne Specht. Eingeladen von den Sammlern Leo Kuelbs und Dirk Lehr, eine Schau auf Kunstmatrix zu kuratieren, habe ich mich mit der Wahrnehmung von Strukturen in der Kunst beschäftigt und den Wegen der Künstler dorthin:
"Kunst ist Handlungsfeld, ist Genesis. Elf Kunstschaffende finden mit unterschiedlichen Materialien und Techniken individuelle Wege der Wahrnehmung, die sie in Strukturen und Konzepte, Konturen und Texturen übersetzen. Unsere Perzeption als Betrachter wiederum empfängt diese Möglichkeitsräume zwischen den jeweiligen Valeurs, Materialstrukturen, Reliefs, Kompositionen und Themen der Künstler*innen. Ihre Motivation zum Vorstoß ins Unbekannte und das Technische zu entschlüsseln, soll hier nicht Aufgabe sein, sondern mir sind die uns offenbar werdenden narrativen Bildräume der Werke und ihre Metaebenen wichtig. Lassen Sie sich ein auf die diversifizierten Angebote, ohne viel über die Biografien der Werke zu wissen. Meine Kuration soll weder eine Auseinandersetzung oder gar die Heilung der Vergangenheit bedeuten, sondern in Korrespondenz treten mit dem Jetzt und auch im Walter Benjamin‘schen Sinne das „vom Sturm in die Zukunft Gewehte“ hervorbringen.
Gegen die Banalitäten des Alltags hilft es, in sich zu ruhen und sich trotz unterschiedlicher Umstände selbst treu zu bleiben. Um diese Ataraxis zu erreichen, brauchen einige Menschen eine „Contrescarpe“ [moseke], andere die Vergegenwärtigung ihres Selbst im Jetzt unter Hinzunahme eines Radiergummis [Olaf Schirm]. Stefan Hirsig stellt mit gestischen Bewegungen farbintensive Anbahnungen von „Kontakt“ her, während Langlands & Bell in ihrem Architekturmodell ein Wegeleitsystem visualisieren, deren Chiffre wir alle nur zu gut kennen. In den Gipsfrottagen von Susanne Specht fühlen wir uns an kartografische Umgebungsräume erinnert, die uns durch die Schichtungen hineinziehen und mittels reliefhafter Schraffuren bereit sind, aufzunehmen. Aufgenommen von der fluiden Musterung des Wassers gleitet hingegen der Schwimmer in Veronika Natters Fotografie „honey moon suite swimmer“ unter alle Widerständen hindurch. Und gleißend-gleitendes Licht zeichnet in „LA Morning routine #1 Downtown LA“ die im Schatten liegenden Reliefs der Architekturen nah, hinführend zu den knallroten Interieur-Spots, deren Überlagerung die Fotografin im sich vordergründig reflektierenden Moment einfängt. Diese Fäden nimmt „LA Morning routine #2 Downtown LA“ stillebenhaft auf.
Auch ein Edward Kienholz spielt mit Stereotypen: Die Rollenspiele und Strategiezüge des Schachspiels sind auf beiden Seiten modifiziert in Knäule, die offensichtlich nicht bereit sind, sich regelkonform zu entfalten, um das gewohnte Spiel zu vollziehen. Die hierarchisch unterschiedlichen Autoritäten legen eventuell ein gemeinschaftlich-exzessives Verhalten an den Tag ...
Relativ gefasst balanciert Arno C. Schmetjen die Elemente seiner Materialcollage in einen haptischen und kräftigen Bildraum. Dem gegenübergestellt gelingt Masch das In-einen-inneren-Dialog-Treten von Strukturen und Spannungen in „Never Again“. In seine Suche nach dem Wesen von Grau mittels mehrschichtigem Auftragen von Ölfarben, dem Überlagern von verschiedenen Materialien und Farbmassen, realisieren wir in „Plenty of Grey“ die Natur-Nahbarkeit künstlerischen Schaffens, dessen Kraft auch von der Absorption und Reflexion des Lichts lebt. Ähnlich liegt es bei der frühen Arbeit von Karl Renziehausen, die das Narrative mittels Öl und Bindegarn auf dem Bildträger „IX/84“ hin zum Objekthaften formt.
Das von Gregory Bateson der Schrift „Wo Engel zögern“ entnommene Zitat: „Ästhetik ist die Aufmerksamkeit für das Muster, das verbindet.“ hat für Ruth Gilberger in den Jahren 2014 bis 2018 zwei großformatige Zeichnungen ausgelöst, die durch Lichtdurchlässigkeit und Tiefe evoziert eine enorme Plastizität haben. In „Bateson´s lover 1“ wölbt sich induktiv in still-reduzierter Performanz wie Gewebtes dem Betrachter entgegen, wohingegen das Gezeichnete in „Bateson´s lover 2“ zu sinken scheint, wie durch Feuchtigkeit erschwert.
Und auch hier nehmen wir perzeptiv vornehmlich Gelerntes wahr: Können wir von den Auslassungen der Künstlerin auf Gaze oder Netze schließen? Als wenn das menschliche Gehirn permanent bemüht ist, Abstraktes oder Leerstellen aufzufüllen und abzugleichen – selbst beim Löcher-in-den-Himmel-starren suchen wir unwillkürlich nach Resonanz und entsteigen erst dann der Verunsicherung, wenn wir uns die Welt durch Wolkenschafe erklären können ...
In dieser Spannung zwischen Schaffen und Rezeption stehen alle Werke dieser Schau – und vereinen sich durch ihre emotionalen Impulse, die uns Betrachter ins Bild ziehen. Ob pastos gesetzte Farbflächen, Handlungsanweisung, Fotografie, Modell, Materialcollage oder Grafitzeichnung, sie alle lösen subjektive Assoziationsketten aus, die uns unser Selbst mit einbringen lassen in die Bildräume. Und dies ist mir, die sich das Wort „Kurator“ vom Lateinischen curare „to care“ ableitet, gleichermaßen auf beiden Seiten wichtig: das Werk und seine Wahrnehmung." https://bit.ly/2GXT9qd
Jana M. Noritsch was invited by Lehr/Kuelbs Projects to curate an exhibition: "Passages of perception into structures". The digital show by founder of the Collectors Club features works by Ruth Gilberger, Stefan Hirsig, Edward Kienholz, Langlands & Bell, Masch, moseke, Veronika Hubert Natter, Karl Renziehausen, Olaf Schirm, Arno C. Schmetjen and Susanne Specht.
Until November 5, the room of Leo Kuelbs and Dirk Lehr is virtually accessible.
> dive into: https://bit.ly/2GXT9qd <
Art is a field of action, is genesis. Eleven artists use different materials and techniques to find individual ways of perception, which they translate into structures and concepts, contours and textures. In turn, our perception as viewers receives these spaces of possibility between the respective values, material structures, reliefs, compositions and themes of the artists. To decipher their motivation to advance into the unknown and the technical is not the task here, but rather the narrative pictorial spaces of the works and their meta-levels, which become apparent to us, are important to me. Get involved in the diversified offerings without knowing much about the biographies of the works. My curation is not meant to be a confrontation or even a healing of the past, but to correspond with the now and to produce, in Walter Benjamin's sense, the "blowing from the storm into the future".
Against the banalities of everyday life it helps to rest in oneself and to remain true to oneself despite different circumstances. In order to reach this Ataraxia, some people need a "Contrescarpe" [moseke], others need the realization of their self in the now with the help of an eraser [Olaf Schirm].
Stefan Hirsig uses gestural movements to create color-intensive approaches to "contact", while Langlands & Bell visualize a guidance system in their architectural model, whose cipher we all know only too well.
In Susanne Specht's gypsum frottages we are reminded of cartographic surrounding spaces, which draw us in through the layers and are ready to take us using relief-like hatchings.
Captured by the fluid patterns of the water, on the other hand, the swimmer in Veronika Natter's photograph "honey moon suite swimmer" glides under all resistance. In "LA Morning routine #1 Downtown LA", glistening, gliding light draws the shaded reliefs of the architecture close up, leading to the bright red interior spots, whose superimposition is captured by the photographer in a superficially reflective moment. “LA Morning routine #2 Downtown LA" takes up these threads still-life-like.
An Edward Kienholz also plays with stereotypes: The role plays and strategy moves of the chess game are modified on both sides in columns, which are obviously not ready to unfold according to the rules in order to perform the usual game. The hierarchically different authorities may display a communal excessive behaviour ...
In relative terms, Arno C. Schmetjen balances the elements of his material collage into a haptic and powerful pictorial space.
In contrast, Masch succeeds in creating an inner dialogue of structures and tensions in "Never Again". In "Plenty of Grey" we realize the closeness to nature in his search for the essence of grey by means of the multi-layered application of oil paints, the superimposition of different materials and color masses, the power of which also lives from the absorption and reflection of light.
It is similar in the early work by Karl Renziehausen, who uses oil and binding thread on the picture carrier "IX/84" to shape the narrative into an object.
The quote taken by Gregory Bateson from the essay "Angels Fear": "Aesthetics is the attention to the pattern which connects.” has inspired two large-format drawings for Ruth Gilberger between 2014 and 2018, which have an enormous plasticity evoked by translucence and depth. In "Bateson's lover 1", the drawing inductively arches towards the viewer in still-reduced performance like woven material, whereas in "Bateson's lover 2" the drawn seems to sink, as if made more heavy by moisture.
And here, too, we perceptively perceive primarily what we have learned: can we infer gauze or nets from the artist's deletions? As if the human brain is constantly trying to fill and balance the abstract or empty spaces - even when staring into the sky, we involuntarily look for resonance and only then rise from the uncertainty when we can explain the world to ourselves through cloud sheeps ...
All of the works in this show stand in this tension between creation and reception - and unite through their emotional impulses, which draw us viewers into the picture. Whether pastose colored areas, instructions for action, photography, model, material collage or graphic drawing, they all trigger subjective associative patterns that allow us to bring our self into the pictorial spaces. And this is equally important to me, who derives the word "curator" from the Latin curare "to care", on both sides: the work and its perception.