
22/12/2020
PalmArtPress Debütroman des Jahres! Ein Ausschnitt aus "Die Wende im Leben des jungen W." von Frederic Wianka ...
Literarische Bildinterpretation Nr. 2: Egon Schiele, Der Cello-Spieler, 1910, Albertina Wien
Und noch eine Ecke, ein neuer Raum, wieder ein Kapitel, ein weiterer Meister. Müde sehe ich, dass ich wenig von ihm weiß, nur seine expressionistischen Skandale kenne, diese unverblümten Fleischlichkeiten des Seins und die Verwurstereien der Nachwelt in Form erotischer Postkartenmotive. Aber auch, dass ich einmal von früher Vollendung hörte neben der Legende von der Banalität seines frühen Todes. Und als sähe man in den Bildern schon das tödliche Fieber, schwelge ich mit einem Mal in seinen Farben. Selbst der Kohle erzwingt er Kolorit – lichtes Schwarz, flirrendes Grau, gilbendes Weiß. In allen seinen Bildern sehe ich "unrettbar das Ich. Ich sehe die wärmsten Farben zueinander verfließen, zerrinnen, brechen, die erhaben sind, hügelig aufgetragen, grün, grau, und daneben blaukalt wie ein Stern, weiß, weißblau … Wissend wird man, jede Ziffer beobachtend und zu sehen versucht, das ist mehr, schauen kann auch der Maler, das ist der Kontakt, das ist der Wille." Und in den Formen setzt dieser Wille sich fort, in den scheinbar amputierten Körpern, in marionettenhaftem Tanz, in Mehrfachselbstbildnissen, in erotischer Verheißung, in merkwürdig entlebten Portraits, in der Reduktion ohne Hintergrund, das Wesentliche fokussiert. Ein Seher der modernen Zeit: Industrialisierung – das Subjekt ist aus seiner Statik herausgeschleudert, jede Anthropozentrik aufgehoben, ist plötzlich beschleunigt auf immer schnelleren Wegen durch den Raum, die Perspektive unablässig ändernd – Augenblicke übereinandergelegt, wie befreit von den Zwängen des Körpers, Stück um Stück verrenkt aneinander. Persönlichkeit wird zur bloßen Frage nach der jeweiligen Zeit. Sie dagegen geht von Bild zu Bild, ohne zu verweilen. Eine erschöpfte Ungeduld liegt in ihrer Eile, wie bei allen in diesem letzten Raum. Sie geht voraus, erkundet ihn flüchtig, schreitet ihn bloß ab, ihr Vorsprung wächst. Ich will sie nicht wieder verlieren und schaue ihr nach, nach jedem neuen Bild. Mit einem Mal sehe ich sie innehalten. Mein Abstand zu ihr beträgt ein oder zwei seiner Perioden. Mein Bild von ihm wächst über diese weiter, meine Bewunderung ebenso. Und sie steht noch immer dort, mit offenem Mund, der stimmlos Gedankenströme formuliert, mit einem Schatten auf dem Gesicht, das plötzlich gealtert scheint, mit einem Schrecken in den Zügen, die wie zerfallen sind, die so leichenblass nicht übereinstimmen wollen mit dem Glanz der Augen. Tränen, die sie nicht zu unterdrücken sucht. Ich bin ihr nicht recht, oder ich bin zu viel. Sie geht, bevor ich es verstehen kann: Ein Stück Packpapier, schwarze Kreide und Aquarell. Ein aufrecht sitzender Mann. Ganzkörper. Unterschenkel abgeschnitten. Sonst nichts, nur das Weggelassene. Die rechte Hand hält den fehlenden Bogen, ausgestrichen, nach unten vom Körper weg. Die linke, nah der Brust, umgreift den vermuteten Hals, die Finger druckvoll auf den nicht gemalten Saiten. Den Mann umzeichnet ein schwarzer Strich. Die Farben wie ein Elixier hineingegossen, wo Leben ist oder Bewegung in warmen Tönen trüb. Ein Glühen dagegen, wo die Musik ist. Orange der Arm, die Hände. Orange auf den Wangen, den Lidern, um den konzentrierten Blick. Das Ohr aber scheint zu brennen, so wie der Unterleib. Das Feuer in einer Abendröte ausgestrichen zum Herz hinauf, ein Züngeln und Flackern aufwärts in den wässrig stillen Rest aus Türkis und Himmelblau. Ein darin schlagender, heißer, weicher Fleck. Der Mann ist, was er macht … Er ist allein, irgendwo. Kein Raum, beiges Packpapier, keine Perspektive, pastöse Fläche, kein Stuhl, er sitzt in der Luft. Er spielt sein Cello, ein Instrument, das nicht zu sehen ist. Und ohne den begrenzenden Strich würde er zerfließen. Es bliebe nur dieser Fleck und was nackt an ihm ist, die skelettösen Hände in Orange und das kastenförmige Gesicht, feuerfarben infiziert. - Aus "Die Wende im Leben des jungen W.", Roman, PalmArtPress, Berlin 2020